Mit Traumwelten gegen den Spital-Blues

Sibylle Schneller arbeitet seit zwölf Jahren als Spitalclownin. Es ist ihr Traumberuf. Der «Seetaler Bote» hat die Gelfingerin einen Tag lang im Kinderspital Luzern begleitet.

Wenn sie den weissen Kittel mit den bunten, viel zu grossen Taschen überzieht, sich das Gesicht mit Tupfern und Strichen bemalt und ihre rotweissen Riesenschuhe anzieht, nennt sie sich Doktor Ah.

Für Sibylle Schneller bedeutet diese Verwandlung zur Spitalclownin aber noch viel mehr. Für sie ist es ein Ritual. Im Vorbereitungszimmer des Kinderspitals Luzern, welches den Spitalclowns zur Verfügung steht, eilt die 44-Jährige hin und her, scherzt und kramt ihr Material für den Besuch bei den kleinen Patienten zusammen. Die ruhige, besonnene Sibylle Schneller hat sich in die witzige und vorlaute Clownin Doktor Ah verwandelt. «Sobald ich in den Clown-Kleidern stecke bin ich irgendwie anders», sagt Doktor Ah und hängt sich ihre Ukulele um. Dabei streift das Instrument ihre blonden Haare, in denen gelbe und grüne Blumen-Haarbänder stecken und nun lustig hin und her wippen.

Doktor Ah und Doktor Pfnüsel bei den letzten Vorbereitungen.

Tricks üben, neue Musikstücke einstudieren oder das Kostüm bereit machen sind wichtig für Sibylle Schneller, genauso entscheidend ist für sie aber die Vorbereitungszeit kurz vor einem Einsatz. Dazu gehört neben Schminken und Anziehen auch ein gemeinsames Mittagessen mit den anderen Clown-Kollegen und Kolleginnen. Ohne diese Rituale würde sich Sibylle Schneller nicht bereit fühlen. Und das sei für sie die schlimmste Vorstellung überhaupt. «Wenn du nicht fit und wach bist, ist dieser Job der Horror.» Schliesslich müsse man als Spitalclown viel improvisieren. Es gehe darum, Dinge zu «verfremden». Infusionsständer werden schon Mal zu Giraffen. Wenn es überall blinkt und leuchtet, verwandelt sich das Zimmer plötzlich in eine Raumstation. «Die Geschichte entsteht an Ort und Stelle.»

 

Neuland Spital

Sibylle Schneller weiss, wovon sie spricht. Seit zwölf Jahren übt sie den Beruf der Spitalclownin an zwei Tagen pro Woche aus. Dafür absolvierte die gelernte Lehrerin und Bewegungsschauspielerin eine Ausbildung bei der Stiftung Theodora, deren Traumdoktoren – so nennt die Stiftung ihre Spitalclowns offiziell – in der ganzen Schweiz im Einsatz sind. Die schauspielerischen Fähigkeiten seien bei dieser Ausbildung eher im Hintergrund gestanden, da dies sowieso eine Voraussetzung für den Job sei, sagt Schneller. Die grösste Herausforderung sei die neue Arbeitsumgebung gewesen. «Das Spital war für mich Neuland.»

Anfangs wusste Schneller nicht einmal, ob sie in dieser Umgebung überhaupt jemals arbeiten kann. «Ich konnte kein Blut sehen.» So reiste sie vor ihrer Ausbildung als Spitalclownin in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá, wo sie bei einer Spitalclownkollegin erste Erfahrungen sammelte. Überrascht sei sie gewesen, wie gut das ging. «Ich merkte, dass ich mich als Clownin nicht auf die Blutabnahme sondern auf mein Spiel und die Interaktion mit dem Kind konzentrieren kann.» Schnell hätten sich ihre Befürchtungen in Begeisterung umgewandelt. «Es fasziniert mich bis heute, in einem schwierigen Umfeld Humor einzubringen. Für mich ist dieser Job mein Traumberuf.»

Sibylle BallonLena Ballon Sibylle balanciertLena Ballon balanciertJael mit ClownsLiam und Sibylle2Jael SeifenblasenDoktor AhJael1Liam_Sibylle und MutterLiam Unterschrift

Schneller lernte in der Schweiz die medizinischen Abläufe kennen, eignete sich Wissen über Krankheitsbilder an und befasste sich mit der Spitalhygiene. Sie lernte auch, wie sie sich verhalten muss, wenn während ihrem Spiel eine überraschende Diagnose plötzlich alles schlagartig auf den Kopf stellt. So sei es beispielsweise schon vorgekommen, dass ein Kind eine halbe Stunde vor ihrem Besuch eine Krebsdiagnose erhielt. Nichtsahnend blies Schneller vor dem Krankenzimmer ein Ballon auf und verursachte dabei quietschende Geräusche. «Die Mutter kam völlig aufgelöst aus dem Zimmer und sagte mir wütend, dass ich nicht so viel Lärm verursachen solle.» Kurz darauf habe sie vom Personal den Grund für das Aufbrausen erfahren und habe das Zimmer schliesslich nicht betreten. Das komme aber selten vor, im Jahr vielleicht viermal.

Kampf um Aufmerksamkeit

Zurück im Kantonsspital Luzern. Sibylle Schneller und ihr Clown-Kollege Martin Soom, alias Doktor Pfnüsel, besuchen die erste Patientin dieses Nachmittags. Jael erwartet die beiden bereits. Der rechte Arm der 9-Jährigen steckt in einem grünen Gips. Sie sitzt aufrecht auf dem Bett und schaut den beiden Clowns interessiert zu. Als Doktor Ah Seifenblasen in die Luft pustet, lacht sie vergnügt und versucht sich eine davon zu schnappen. Die Mutter steht mit etwas Abstand zum Bett daneben und überlässt ihrer Tochter den Mittelpunkt. Lächelnd zückt sie ihr Smartphone und schiesst einige Bilder. Ein Umstand, an den sich die Clowns längst gewöhnt haben. «Wir werden häufig gefilmt und fotografiert», so Schneller. Ein Problem habe sie damit nicht. Nur dann, wenn die Geräte nicht wegen ihr aus den Taschen genommen werden. Es sei schon vorgekommen, dass Eltern wie Kinder sich lieber mit dem Smartphone beschäftigten, als ihren Tricks zuzuschauen. «Wir müssen heute mehr um Aufmerksamkeit kämpfen.» Wenn sie diese aber erst einmal habe, seien viele Kinder nach wie vor begeisterungsfähig. «Live ist einfach besser», sagt Schneller bestimmt.

Bitte lächeln. Die Clowns müssen oft für Fotos hinhalten. Zumindest seit es das Smartphone gibt.

Der Besuch bei Jael neigt sich bereits dem Ende entgegen. Die beiden Clowns verabschieden sich mit einem Handschlag bei ihr. Auf dem Weg zum nächsten Patienten legen Sibylle Schneller und Martin Soom für keine Sekunde ihre Rolle ab. Im Lift stimmt Doktor Pfnüsel spontan ein Lied an und spielt dazu auf der Ukulele. Doktor Ah überträgt ihre Fröhlichkeit auf die Mitarbeitenden, welche sie in den Spitalgängen trifft. Das Personal zeigt sich sichtlich erfreut über die kurze Ablenkung durch die zwei Clowns. Die freundschaftlichen Gespräche wirken echt. Es scheint, dass hier öfter zusammen gelacht wird. «Wir fühlen uns wohl in Luzern», sagt Schneller. Die Atmosphäre sei sehr angenehm und locker. Auch das Kinderspital findet nur lobende Worte für die Traumdoktoren der Stiftung Theodora. «Die Traumdoktoren sind für das Spital auf vielfältige Weise bereichernd», sagt Melina Ragonesi von der Unternehmenskommunikation des Luzerner Kantonsspitals. Sie seien lustig, witzig, kreativ und voller Überraschungen. Dies unterstütze nicht nur die Heilung der kranken Kinder, sondern sei auch für das Spitalpersonal bereichernd.

Sibylle Schneller und Martin Soom erfreuen sich an den Zeichnungen, welche die Kinder in den Briefkasten der Traumdoktoren gelegt haben.

Die Stiftung Theodora wurde vor 25 Jahren von den Brüdern Jan und André Poulie im Andenken an ihre Mutter Theodora gegründet. Die Stiftung verfolgt das Ziel, den Alltag von Kindern im Spital und in spezialisierten Institutionen mit Freude und Lachen aufzuheitern. In den 25 Jahren haben Profi-Künstler als Traumdoktoren Kinder während 282’760 Stunden besucht. Heute sind 62 Traumdoktoren in 35 Schweizer Spitälern und 29 Institutionen für Kinder mit Behinderung unterwegs. 22 Personen befinden sich neu in Ausbildung zur Traumdoktorin beziehungsweise zum Traumdoktor. Jeden Donnerstag sind drei Traumdoktoren im Kinderspital Luzern im Einsatz. Die wöchentlichen Artistenbesuche werden gemäss der Stiftung vollständig von Spendern und Partnern finanziert.

Ein Beruf mit vielen Risiken

Mittlerweile sind Doktor Ah und Doktor Pfnüsel im Zimmer von Liam angekommen. Der 10-Jährige sitzt in einem Rollstuhl neben seinem Bett, vor ihm ein kleiner Plastiktisch auf dem mehrere Spielkartenstapel liegen. Doktor Ah zeigt ihm einen Trick. Immer wieder versucht der junge Patient ihr auf die Schliche zu kommen. «Wie hast du das gemacht?» Die Erklärung liefert sie prompt. In ihrer Fantasie hat ein Sturm die Karten in die gewünschte Reihenfolge gebracht. Nun versuchen beide Clowns Liam von ihren Zauberkräften zu überzeugen. Schneller stellt sich hinter Liam, Soom wirbelt mit seinen Händen durch die Luft und zeigt schliesslich auf die linke Schulter des Jungen: Ein kleiner Glückskäfer hat darauf Platz genommen. Liam dreht den Kopf zu seiner Linken, blickt verdutzt und beginnt zu lachen. Erst jetzt bemerkt er Schneller hinter seinem Rücken. «Das warst du!» Die Clownin hebt die Hände und zuckt mit den Schultern. «Ich habe nichts getan.» Liam grinst. Ist er ihr auf die Schliche gekommen?

Liam lässt sich nicht so einfach austricksen.

Wer Sybille Schneller in solchen Szenen beobachtet, denkt, dass sie alles mit Leichtigkeit meistert und jede Situation perfekt im Griff hat. Dieser Schein trügt. Bis heute fragt sie sich manchmal, ob sie auf die Kinder lustig wirkt. Das zeige sich in einer gewissen Unsicherheit, bevor sie einen Nachmittag im Spital starte. Sie frage sich dann, ob wohl alles gut gehe. Ob ihr Humor ankomme. Schliesslich sei dieser bei jedem anders. «Unser Beruf ist sehr riskant.» In einer solchen Situation müsse man einfach Vertrauen in sich selbst haben. Spätestens beim Spielen sei die Unsicherheit meist weg. Ausser ein Trick misslingt. Das sei ihr auch schon passiert. Sie sei sofort in die Offensive gegangen. «Uh, gell, das ist mega peinlich?», habe sie gefragt. Die Antwort folgte prompt: «Ja, das ist mega peinlich.» Damit sei die Situation entschärft gewesen. Schneller gelang der Trick danach doch noch.

Freud und Leid

Sibylle Schneller ist Mutter von zwei Knaben. Das helfe ihr immer wieder, in schwierigen Situationen die nötige Empathie aufzubringen. So versuche sie auch für eine gestresste Mutter und nicht nur für das Kind da zu sein. Teilweise entstünden Beziehungen zu den Familien, die bis zu einem halben Jahr andauern würden. Schneller erinnert sich an ein Kind, welches im Koma lag. «Wir gingen immer wieder hin, sangen Lieder und banden einen Herzballon ans Bett.» Später wachte der kleine Patient auf und die Clowns besuchten ihn erneut. Sie schenkten ihm wiederum einen Herzballon. «Erstaunlicherweise zeigte das Kind eine riesige Freude.» Irgendwie habe es die vorherigen Besuche wahrgenommen. Solche Momente seien sehr berührend. Es löse in ihr ein schönes Gefühl aus. «Meine Arbeit hat etwas bewirkt.»

Sibylle Schneller schöpft aus den aufgebauten Beziehungen zu den Kindern und ihren Eltern Kraft, um Schicksale besser verarbeiten zu können.

Jedoch enden die Beziehungen manchmal auch tragisch. «Immer wieder begleiten wir Kinder bis zum Schluss.» In solchen Situationen zeigt Doktor Ah ein anderes Gesicht. «Ich spiele auf der Ukulele oder bin einfach nur da.» Ein Clown bringe alle Gefühle zum Ausdruck. Nicht nur die fröhlichen. «Manchmal sind wir alle zusammen traurig.»

Verarbeiten könne sie solche Schicksale gut. Neben dem Austausch mit Kollegen, helfen ihr auch die Reaktionen der Betroffenen. «Die Freude, welche mir die Kinder und Eltern immer wieder entgegenbringen, hilft mir, das Ganze nicht als Belastung wahrzunehmen.» Sie sehe in jedem Kind das Lebendige, auch wenn es noch so krank sei. Aus diesem Grund müsse sie auch nichts verdrängen. «Es gehört zu meinem Leben.» Alles lässt aber auch Sibylle Schneller nicht an sich heran. Wenn sie die Krankheitsgeschichte eines Kindes liest, merkt sie sich nur jene Teile, die für ihre Arbeit relevant sind. Sonst sei der Kopf voll. «Den Rest vergesse ich relativ schnell wieder.» Und dann sagt Sibylle Schneller einen Satz, der eine Fähigkeit beschreibt, die sie besonders gut beherrscht. «Man muss auch wieder loslassen können.»