Ludwig Suter ist seit Jahren als Nachtwächter von Beromünster bekannt. Als „Ur-Möischterer“ kennt er jeden Ecken seines Heimat-Städtchens. Für die Sommerserie „Blick über den Gartenzaun“ hat er seine Tour ausnahmsweise auf den Tag verlegt.
Er liebt es Geschichten zu erzählen. Am liebsten seine eigenen. Der Nachtwächter von Beromünster, aufgewachsen mitten im Flecken, ist ein wahres Urgestein der fusionierten 6500-Seelen-Gemeinde. Während den vergangenen 20 Jahren zeigte Ludwig Suter in vielen hundert Führungen historisch Interessierten, Familien und Gruppen sein geliebtes Möischter. Auch an diesem Donnerstagnachmittag mitten im Juli will er seinen Gast auf eine «ganz besondere Führung» mitnehmen, wie er im Vorfeld sagt. Suter baut gerne Spannung auf. Eben ein Geschichtenerzähler.
Bevor die Reise beginnt, verschwindet der Grafiker und Zeichner im Nebenzimmer seines grossen Hauses, welches mitten im Flecken steht. Einige Minuten später schreitet ein Mann zur Tür herein, der nicht in dieses Jahrhundert passt. Die schwarz-gelbe Uniform und der bordeauxrote Umhang erinnern an längst vergessene Zeiten. Komplettiert wird das Gewand durch eine schwere Hellebarde in Suters Hand und ein kleines Horn, welches an seinem Hals baumelt. Der Nachtwächter ist bereit. Ob er die Hellebarde mitnehmen soll, fragt er. Falls möglich gerne. Suter muss nicht lange überlegen. Als Mann der die Geschichte liebt, muss für ihn alles authentisch wirken. Immer.

Auf dem Weg durch das malerische Ortszentrum hört der Möischterer Nachtwächter so manches «Hallo» ond «Grüezi». Die meisten Einwohner kennen ihn. «Es gibt wohl wenige Möischterer, die noch nie eine Führung von mir gesehen haben.» Stolz schwingt in seiner Stimme mit. Er sei eben nicht wie die Mehrheit der Leute. Auch sonst nicht. «Wenn mir etwas nicht passt, haue ich auch mal auf den Tisch.» So machte er sich kürzlich als wandelnde Plakatsäule für die Westumfahrung von Beromünster stark. Mit einer Petition an den Gemeinderat forderten er und einige Mitstreiter, dass es mit diesem Projekt endlich vorwärts geht. So könne es nicht weitergehen. «Der Flecken muss endlich entlastet werden.» Suters Haus steht an einer besonders engen Stelle. «Dort zwängen sich jeden Tag tausende Fahrzeuge vorbei.» Politiker will der Urmöischterer aber nicht sein. Zu viel werde da geredet. Und zu wenig gemacht.
Vorbei am Stiftstheater erzählt Suter vom Fleckenbrand, der 1764 fast das gesamte Zentrum zerstörte. Nur gerade vier Jahre habe der Wiederaufbau gedauert. «Das würde heute viel länger dauern.» Die Häuser seien nicht mehr im mittelalterlichen Stil, sondern nach barocker Architektur erbaut worden. Auf dem Weg zur Stiftskirche hält der Nachtwächter bei einem Brunnen an. Rundherum stehen grosse Häuser. Sie scheinen schon hunderte Jahre hier zu stehen. «500», präzisiert Suter. Es sind die Wohnhäuser der Chorherren. Acht wohnen noch in Beromünster. Dreimal täglich treffen sie sich in der Stiftskirche zum Gebet. «Heute ist das Stift vor allem eine Altersresidenz für Pfarrer und Priester», erzählt der Nachtwächter.

Bei 30 Grad im Schatten schleppt sich Suter in seinem viel zu warmen Gewand die letzten Meter bis zur Stiftskirche hoch. Beim Anblick der imposanten Kirche scheint der 69-Jährige die Schweisstropfen auf seiner Stirn zu vergessen. «Ich bin immer wieder aufs Neue von dieser Architektur überwältigt», schwärmt er. Bereits als kleiner Junge habe ihn dieser Bau mit 1000-jähriger Geschichte fasziniert. Als Ministrant habe er jeden Ecken der Kirche erkundet. Inklusive Glockenturm. Schelmisch lächelnd fügt er an: «Ich wusste sogar, wo der Messwein gelagert wurde.»
Und dann ist der Nachtwächter angekommen. Am Ort der Ruhe, wo ihn keine Menschenseele stört und der Alltag weit weg zu sein scheint. Dort, wo er nichts davon mitbekommt, wenn nicht weit entfernt schon wieder ein Lastwagen seine Hauswand touchiert. Der Kreuzgang der Stiftskirche ist des Nachtwächters Lieblingsort. Fast jeden Tag komme er hierher. Das Einzige, was er hier höre, sei das Pfeifen der Vögel und Glockengeläut, das ihn an seine Kindheit erinnert. «Hier kann ich Energie tanken, um nachher wieder an den lärmigen Flecken zurückzukehren.»

Von Beromünster wegziehen kam für Ludwig Suter nie in Frage. Er sei hier in der 25. Generation zu Hause. Und das bleibe auch so. Wünschen würde er sich aber manchmal etwas: Mehr Selbstwertgefühl in der Bevölkerung. Das zeichne eigentlich die Identität der Gemeinde aus. Und die dürfe Beromünster – sein Möischter – auf keinen Fall verlieren.