Fehlende Bewilligung, zu wenig Personal

Umfangreiche Recherchen zeigen, dass beim Rettungsdienst Seetal einiges im Argen liegt. Unter anderem fehlt der Blaulichtorganisation bis heute eine wichtige Bewilligung, um Sonntags- und Nachtarbeiten leisten zu dürfen. Auch die Personalsituation ist prekär. Die Verantwortlichen geben sich wortkarg.

Sein letzter Tag beim Rettungsdienst Seetal war Ende September. Günther Becker verliess den RD Seetal nach acht Jahren. Während der Vorstand der Blaulichtorganisation von einer «verdienstvollen Person» sprach und Becker sich in der «Luzerner Zeitung» als verantwortungsvoller Geschäftsführer, der offenbar freiwillig in den Ruhestand getreten ist, präsentieren konnte, zeichnen Informationen und Personen aus dem Umfeld des Vereins ein anderes Bild. Er wollte nicht gehen. Ganz im Gegenteil. Noch im Frühjahr habe er um das Amt des Vorstandspräsidenten innerhalb der Organisation gebuhlt.

Dass die aktuellen Präsidenten Daniel Rüttimann und Nadia Blaser und nicht Günther Becker heissen, hat viel mit einer Aufsichtsbeschwerde, welche Mitte Mai bei der Dienststelle Gesundheit eingereicht wurde, zu tun (der SB berichtete). Die Beschwerde wurde zwar abgewiesen, die darin erhobenen Vorwürfe gegen Günther Becker sind deshalb aber nicht minder brisant. In einem Papier, das der spätere Beschwerdeführer Anfang April an den Vorstand richtete und das dem SB vorliegt, fordert dieser die «Freistellung oder sogar fristlose Entlassung» des ehemaligen Geschäftsführers. Er soll Mitarbeitende gemobbt und gegeneinander ausgespielt haben, um seine Interessen durchzusetzen. Dabei habe er seine Arbeitszeit missbraucht und Mitarbeiter während stundenlangen Gesprächen auf seine Seite zu ziehen versucht.

Mit den Anschuldigungen konfrontiert, sagt Günther Becker: «Diese Vorwürfe kann ich nicht nachvollziehen.» Insbesondere treffe ihn die Anschuldigung, Leute gemobbt zu haben. «Ich wehre mich explizit dagegen. Das ist der einzige Punkt, welcher mich persönlich trifft.»

Betriebsbewilligung auf der Kippe
Zum Verhängnis wurde Becker aber die Tatsache, dass er als Pfleger eigentlich gar keinen Rettungsdienst leiten darf. Gemäss dem Dokument «Richtlinien zur Anerkennung von Rettungsdiensten» vom Interverband für Rettungswesen muss «die fachliche Leitung durch einen diplomierten Rettungssanitäter und einen Notarzt sichergestellt werden». Wer Beckers Namen im nationalen Register der Gesundheitsberufe eintippt, kann sich davon überzeugen, dass er weder die eine noch die andere Ausbildung besitzt oder je besessen hat. Um im Kanton Luzern als Rettungsdienst eine Betriebsbewilligung zu erhalten, braucht man die sogenannte IVR-Zertifizierung. Diese besass der RD Seetal zwar bereits seit 2015, jedoch war im Oktober 2020 eine Rezertifizierung nötig. Da zu den Minimalanforderungen auch ein entsprechend ausgebildeter Geschäftsleiter gehört, erhielt der RD Seetal eine «geduldete Bewilligung». Unter diesen Umständen konnte Günther Becker anfangs noch dank einer Ausnahmebewilligung ausrücken. Ab Juni war damit aber Schluss. Zudem stellte der IVR dem Rettungsdienst ein Ultimatum: Falls die Mängel bis Oktober nicht angegangen werden, wird dem Verein die Betriebsbewilligung entzogen. Günther Becker sagt dazu, dass er als Anästhesist «eine viel höhere Ausbildung» innehatte. Er habe deshalb die Ausbildung zum Rettungssanitäter «als nicht nötig empfunden». Zudem habe man bereits in seiner Zeit im Kantonsspital Luzern gewusst, «dass ich nicht über diese Ausbildung verfüge.»

Vergangene Woche hat der Rettungsdienst Seetal die IVR-Anerkennung unter dem neuen Geschäftsführer Sebastian Breuer – welcher über die entsprechende Ausbildung verfügt – gerade noch rechtzeitig erhalten. Vorstandspräsident Daniel Rüttimann bestätigt dies: «Der wohl wichtigste Meilenstein ist bereits bearbeitet und erreicht: Die IVR-Anerkennung wurde letzte Woche erteilt. Somit ist der Rettungsdienst Seetal offiziell IVR-zertifiziert. Die kantonale Betriebsbewilligung liegt ebenfalls vor.»

99-Stunden-Schichten eingeplant
Neben Vorwürfen gegen die Person Günther Becker, soll er auch Dienstpläne geschrieben haben, welche gegen geltendes Arbeitsrecht verstossen. Dieser Zeitung liegen Pläne vom Februar, März und April dieses Jahres vor. Darin plante Günther Becker Dienste mit 70-, 80- und sogar 99-Stunden-Wochen ein. Letztgenannten Dienst übernahm er selber. Gemäss geltendem Arbeitsgesetz sind maximal 50 Stunden pro Woche erlaubt. Ein Beispiel aus dem Arbeitsplan vom April: Ein Mitarbeiter musste 50 Stunden am Stück durcharbeiten. Nach seinem 24-Stunden-Dienst leistete er noch bis 12 Uhr Büroarbeit. Bis zu seinem erneuten Nachtdienst lagen maximal fünf Stunden Ruhezeit dazwischen. Nach dem 12-Stunden-Nachtdienst hatte der Mitarbeiter drei Stunden Ruhezeit, bevor er seinen 9-Stunden-Dienst antrat. Somit wurden zum einen viel zu lange Schichten eingeplant, da diese höchstens 12 Stunden betragen dürfen. Zum anderen wurden die Ruhezeiten, welche gemäss dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) einmal in der Woche höchstens auf acht Stunden herabgesetzt werden dürfen, nicht eingehalten.

Mit Nadja Blaser und Katharina Herzog sitzen zwei Mitglieder in diesem Gremium, welche seit Jahren mit Becker zusammenarbeiteten. Auf die Frage, warum sie nicht eingeschritten sind, antwortet Vorstandspräsident Daniel Rüttimann: «Zu diesen Themen und zu den Personen äussern wir uns an dieser Stelle nicht.» Bezüglich den illegalen Dienstplänen sagt der Hochdorfer Gemeinderat: «Die Thematik der Dienstpläne ist unsererseits jedoch genauer zu klären und wo nötig noch anzupassen. Da sind wir bereits daran.»

Rüttimanns Antwort bedeutet im Umkehrschluss: Auch nach Beckers Abgang sind die Dienstpläne noch nicht regelkonform. Das bestätigen mehrere geprüfte Aussagen aus dem Umfeld des Rettungsdienstes. Bis heute werden demnach 24-Stunden-Schichten eingeplant, jedoch nicht mehr in derselben Häufigkeit wie früher.

«Die Personalsituation ist ernster als angenommen.»

Daniel Rüttimann Vorstandspräsident Rettungsdienst Seetal

Keine Bewilligung für Nacht- und Sonntagsarbeit
Diese langen Schichten haben für den RD Seetal weitere negative Auswirkungen. Um in der Nacht sowie an Sonn- und Feiertagen ausrücken zu können, müsste der Verein eigentlich über eine Bewilligung vom SECO verfügen. Diese hat er aber nicht. Eine Anfrage beim Staatssekretariat für Wirtschaft bestätigt dies. «Rettungsdienste, die keinem Spital angegliedert sind, benötigen für die dauernde Nacht- und Sonntagsarbeit eine Bewilligung des SECO», sagt Antje Baertschi, Leiterin Kommunikation beim SECO. Auf die Frage, ob der Rettungsdienst über die erwähnte Bewilligung verfügt, antwortet Baertschi umständlich aber unmissverständlich: «Nach Eingang des entsprechenden Gesuchs prüft das SECO den vorgesehenen Einsatzplan auf seine Rechtskonformität. Diese Abklärungen sind betreffend dem RD Seetal aktuell noch am Laufen.»

Diese «Abklärungen» könnten noch länger dauern. Gemäss einem Informanten aus dem Umfeld des Rettungsdienstes sollen noch bis Ende Oktober 24-Stunden-Dienste eingeplant werden. Erst danach werde der neue Chef Breuer auf 12-Stunden-Schichten wechseln. Das SECO bewillige 24-Stunden-Schichten nur sehr selten und auch nur dann, wenn die Ruhezeiten eingehalten werden könnten. «Und das kann der RD Seetal aufgrund der Personalsituation sowie der Einsatzzahlen aktuell nicht», so der Informant weiter. Personen aus dem Umfeld des RD fragen sich, wer dafür haften würde, wenn während diesen unbewilligten Diensten etwas passieren würde. Diese Frage stellte der SB auch dem SECO. Antje Baertschi liess die Frage unbeantwortet. Auch Daniel Rüttimann ging im Namen des Vorstands nicht darauf ein. Er lässt sich wie folgt zitieren: «Die Aufarbeitung der Sachlage in den letzten Wochen hat gezeigt, dass diesbezüglich einige Herausforderungen vorhanden sind. Diese werden nun vom Vorstand und von der Geschäftsführung gezielt angegangen und gemäss Prioritäten gelöst.» Wie die Prioriäten gesetzt werden, lässt Rüttimann offen: «Den Fokus lege ich auf die aktuelle Situation und auf die Zukunft des Rettungsdienstes Seetal.»

«Abklärungen betreffend RD Seetal laufen aktuell noch.»

Antje Baertschi SECO-Sprecherin, bestätigt die fehlende SECO-Bewilligung

Druck vom Regierungsrat
Diese Fragen richtete der SB auch an die kantonale Dienststelle für Gesundheit (Dige). Sie fungiert als «gesundheitspolizeiliche Aufsichtsbehörde» und lehnte die eingangs erwähnte Aufsichtsbeschwerde, welche die Rolle von Günther Becker, aber auch der Situation rund um die fehlende SECO-Bewilligung zum Thema machte, Mitte Juli ab. Dass die Dige «keine Missstände sah, welche sie veranlassten, unmittelbar einzuschreiten und Sofortmassnahmen anzuordnen», erstaunt. Fragen zu diesem Entscheid, will die Dige keine beantworten. «Zu einzelnen Abklärungen, die zwischen den Ämtern vorgenommen wurden, machen wir öffentlich keine Aussagen. Wir bitten Sie um Verständnis», sagt ein Sprecher dazu. Dass die Dige, oder besser ihr Chef, Gesundheitsdirektor Guido Graf, sich sehr wohl um die brisante Situation beim RD Seetal sorgt, bestätigen mehrere Personen aus dem Umfeld der Blaulichtorganisation. So soll es zu mehreren Gesprächen zwischen Graf und dem Vorstand des RD gekommen sein. Dabei soll der Regierungsrat insbesondere Druck auf Daniel Rüttimann ausgeübt haben, die Sache in Ordnung zu bringen.

Prekäre Personalsituation
Die grosse Aufregung und Unsicherheit innerhalb des Rettungsdienstes blieb auch für den Personalbestand nicht ohne Folgen. Seitdem es im Frühjahr zu mehreren fristlosen Kündigungen – die wegen laufenden Verfahren nicht näher beleuchtet werden können – gekommen ist, sieht sich der RD Seetal mit zahlreichen Abgängen konfrontiert. Von den ursprünglich 18 Festangestellten sind 13 Personen gegangen. Derzeit arbeiten noch 10 Personen mit einem fixen Arbeitsvertrag beim RD. Drei weitere Personen sollen zudem bereits gekündigt haben, derzeit aber noch beim RD arbeiten. Gemäss mehrfach geprüften Quellen haben praktisch alle Personen «wegen den unhaltbaren Zuständen innerhalb der Organisation» den Hut genommen. Die entstandenen Lücken werden mit Freelancern gefüllt. Gemäss einer Person aus der Branche, die nicht namentlich genannt werden möchte, müssten bei einem Rettungsdienst wie jenem im Seetal für einen reibungslosen Ablauf circa 25 Personen fest angestellt sein.

Die prekäre Situation hat auch Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit des RD. Aktuell ist in der Nacht von 21 Uhr bis morgens um 6 Uhr nur noch ein Fahrzeug unterwegs. Früher waren auch in dieser Zeitspanne zwei Ambulanzwagen einsatzbereit. «Wenn dieses Fahrzeug im Einsatz ist, ist im Seetal kein Rettungswagen mehr einsatzbereit», formuliert es ein Branchenkenner, welcher die Zahlen an den «Seetaler Bote» weitergab.

Noch Mitte Juli sprach Co-Präsidentin Nadja Blaser gegenüber dieser Zeitung von «einer normalen Fluktuation». Gemäss dem Informanten spricht man intern aber von hohen 57 Prozent Fluktuation. Auch Daniel Rüttimann muss die damalige Aussage seiner Kollegin revidieren: «Es hat sich in den letzten Wochen gezeigt, dass die Personalsituation effektiv ernster ist, als ursprünglich angenommen.» Er begründet dies aber mit «fehlenden Rettungssanitätern in der ganzen Schweiz». Ebenfalls seien Zentralschweizer Rettungsdienste «von einem Engpass beim Personal betroffen». Und er fügt an: «Die neue Geschäftsführung erhält trotz der angespannten schweizweiten Personalsituation Bewerbungen. Daraus konnten für den November bereits wieder zwei Rettungssanitäter gewonnen werden.»

Der Mitte-Politiker bestätigt, dass der RD in der Nacht aktuell eingeschränkt ist. «Dass in der Nacht nur ein Team im Einsatz steht, hat mit der aktuellen Personalsituation zu tun.» Und er fügt an: «Die Sicherheit der Seetaler Bevölkerung mit einem Einsatzteam in der Nacht ist gewährleistet. Der Rettungsdienst Seetal wird wie immer, was auch in der Vergangenheit der Fall war, durch die Kooperation mit den umliegenden Rettungsdiensten unterstützt.»

Fragwürdige Entschädigungen und Boni
Der Vorstand muss sich aber nicht nur mit seinem Personal auseinandersetzen, sondern auch mit sich selbst. Gemäss der Aufsichtsbeschwerde zahlt sich der Vorstand pro Sitzung 500 Franken aus, hinzu kommen jährlich 50 000 Franken Boni für die Mitarbeitenden. Die eingangs erwähnte Aufsichtsbeschwerde kommt zum Schluss, dass dies «steuerrechtlich strafbar» ist. Etwas vorsichtiger drückt sich eine Person aus dem Umfeld des RD aus, welche sich mit juristischen Belangen auskennt. «Diese Entschädigungen sind zumindest fragwürdig für einen derartigen Verein und liegen wohl in der Grauzone.» Eigentlich müsse der RD so arbeiten, «dass es möglichst günstig ist.» Schliesslich seien die Prämienzahlenden dieser Praxis «ausgeliefert». Daniel Rüttimann sagt dazu: «Die Entschädigungen für den Vorstand und die Boni für die Mitarbeitenden werden wir zu gegebener Zeit vereinsintern prüfen und falls nötig anpassen, wie das jede Organisation regelmässig macht.»

Solchen Diskussionen aus dem Weg gehen, könnte der RD künftig, indem er sich in eine AG umwandelt. Gemäss Rüttimann gibt es solche Pläne: «Dies ist eine der Herausforderungen und ist mittelfristig ein Ziel. Aktuell jedoch haben andere Aufgaben Priorität. Eine Umwandlung erachte ich frühestens auf die GV 2023 als realistisch, da dies auch entsprechende Abklärungen nötig macht und die Vereinsmitglieder einbezogen werden müssen.»

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