Er hört sich Fussball an

Der Montag stand im Zeichen des «weissen Stockes» und soll an die sehbehinderten Menschen in der Gesellschaft erinnern. Christian Bönisch ist einer von ihnen. Der 32-Jährige hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich.

Zielstrebig greift Christan Bönisch nach dem Smartphone. Seine Hand verfehlt das Gerät, welches zwischen Laptop und Papierunterlagen liegt, nur knapp. Bönisch hält kurz inne und überlegt. «Ich weiss, dass es zuletzt hier lag.» Während Bönisch dies sagt, greift er erneut danach und lächelt. «Schwarz neben Schwarz ist nicht optimal.» Der dunkle Laptop wurde ihm zum Verhängnis. Der 33-Jährige leidet seit seiner Geburt an der Krankheit Grüner Star. Etwa drei bis fünf Prozent Sehkraft sind ihm geblieben. Und das nur auf dem rechten Auge. Auf dem linken ist Bönisch blind. Ordnung ist für ihn daher nicht nur ein gutes Gefühl, sondern essenziell im Alltag.

Der etwas andere Masseur

Seit April führt der Hochdorfer eine Massagepraxis an der Hohenrainstras­se. Nervös sei er anfangs gewesen. Ob alles gut kommt? Und wie wohl die Leute auf einen blinden Masseur reagieren würden? Bönisch lächelt. «Es wurde sehr positiv aufgenommen.» Viele seiner Kunden seien der Meinung, dass er anders massiere als ein Sehender. «Ich verlasse mich zu 100 Prozent auf meinen Tastsinn.» So spüre er meist schnell, ob eine Verspannung schon länger anhalte oder den Patienten erst seit kurzem plage. Während der Arbeit setzt der gelernte Medizinische Masseur seine verbliebene Sehkraft nur ein, wenn es wirklich nötig ist. Zum Beispiel beim Scannen der Krankenkassenkarte. «Sehen ist für mich sehr anstrengend.»

Plötzlich blind

Das war nicht immer so. Als Jugendlicher trug Christian Bönisch eine Brille. Auf dem linken Auge betrug seine Sehkraft noch 30 Prozent. Damit bestritt er seinen Alltag ohne Einschränkungen. Im Alter von 16 Jahren änderte sich dies schlagartig. Die Netzhaut des linken Auges löste sich infolge seiner Krankheit ab. Das Auge erblindete komplett. Die ersten Monate seien sehr hart gewesen. «Ich wollte das alles gar nicht wahrhaben.» Bönisch erhielt einen weissen Blindenstock. Nutzen wollte er ihn aber nicht. Zu uncool. Also ging der Teenager ohne Hilfsmittel aus dem Haus – und lief gegen einen Stromkasten. Eine feine Narbe auf seiner Stirn zeugt heute noch vom Unfall. Seit diesem Tag verlässt er das Haus nur noch mit weissem Blindenstock. «Das musste wohl passieren, damit ich meine neue Lebenssituation akzeptiere.»

«Ein Wurf ins kalte Wasser»

Die neuen Umstände zwangen Christian Bönisch seine anderen Sinne zu schärfen. Im Laufe der Zeit entwickelte sich sein Gehör sowie Geruchs-, Gleichgewichts- und Tastsinn automatisch weiter. Die Blindenschrift musste er nicht neu erlernen. Nur auffrischen. Im Alter von acht Jahren wurde sie ihm an einer Sonderschule in Altstetten beigebracht. Als Präventivmassnahme. «Darüber bin ich bis heute sehr froh.»

Trotzdem musste er viel lernen und ausprobieren. «Eine Strassenkreuzung zu überqueren, war am Anfang sehr anspruchsvoll.» Besonders in Zürich, wo Bönisch aufgewachsen ist, war es teilweise ein gefährliches Geduldsspiel. «Ich lief einige Male los, als es sicher noch nicht Grün war.» Er habe einfach immer Glück gehabt. Im Laufe der Jahre sei die Situation aber besser geworden. Die Ampeln geben inzwischen häufig Pfeifgeräusche von sich oder vibrieren, wenn sie angefasst werden. Besonders in den ersten zwei Jahren musste sich Bönisch immer wieder aufraffen. «Es war sehr kräfteraubend. Ein Wurf ins kalte Wasser.» Zum Glück sei er von seiner Familie gut unterstützt worden. Auch Freunde hätten ihn nicht im Stich gelassen. Ablehnungen oder Kontaktabbrüche? Im Gegenteil. «Wir sind noch mehr zusammengerückt.»

Fussball hören

Christian Bönisch besucht inzwischen auch alleine einen FCL-Match. Der Orientierungssinn sei dabei wichtig. «Damit ich wieder zurückfinde.» Vor dem Match sucht er sich einen Platz, an dem er sowohl Heim- wie auch Gästefans hört. «So kann ich besser nachvollziehen, welche Mannschaft gerade angreift und welche verteidigt. Ich bin auf die Stimmung angewiesen», erklärt der ehemalige Torwart. Und was, wenn die Fans keine Stimmung machen? «In diesem Fall wird der Ball wohl gerade im Mittelfeld hin- und hergeschoben oder das Spiel ist langweilig.» Bei Spielen der Schweizer Nationalmannschaft seien solche Situationen besonders gut herauszuhören, fügt Bönisch an und schmunzelt. Auch Standardsituationen «hört» der begeisterte Fussballfan. Bei einem Eckball erklingt zum Beispiel ein leises Hornsignal.

Ich bin auf die Stimmung der Fans angewiesen. Christian Bönisch

Um sich nicht durch die Menge kämpfen zu müssen, geht Christian Bönisch jeweils dreiviertel Stunden vor Spielbeginn zur Tribüne. Und falls es einmal doch etwas eng werden sollte, seien viele Fans sehr hilfsbereit. «Das schätze ich.»

Viel Kontrast hilft

Während Christian Bönisch unterwegs manchmal auf Hilfe angewiesen ist, benötigt er diese zu Hause nicht. Auch der Blindenstock bleibt dann zusammengeklappt in der Schublade. «In mir vertrauten Räumlichkeiten kann ich mich sicher bewegen.» Seine Praxis ist besonders optimal. Dunkler Boden und weisse Wände. «Je mehr Kontraste desto besser.» Falls der Schreibende ein weisses Hemd getragen hätte, wäre er für Bönisch quasi unsichtbar gewesen. Beim grauen Pullover tippt er aber sofort auf die richtige Farbe. Selbst Körperhaltungen bleiben Bönisch nicht verborgen. «Sie leiden an einer Nackenverspannung.» Recht hat er.

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