Das Buch «Immer heim» handelt von einem Knecht, der plötzlich ins Altersheim muss. André David Winters Geschichte ist zwar Fiktion. Sie könnte sich aber auch im Altersheim Ibenmoos abgespielt haben.
Josef Bitzi war Zeit seines Lebens Knecht. Doch plötzlich wurde er nicht mehr gebraucht. Dem Jungbauern war er mehr Last als Kraft. Also schob er ihn ab – ins Altersheim. Dort will sich Bitzi aber nicht dem trostlosen Leben der anderen Alten hingeben. Er bäumt sich auf. Bringt Tiere ins Heim und legt einen Garten an. Das Heim wird zu seinem Daheim. Und das nicht nur für den Knecht. Sondern auch für die anderen Bewohner. Der Roman «Immer heim» von André David Winter erzählt zwar eine fiktive Geschichte. Teile davon hat der Autor aber selber erlebt. «Ich habe als Pfleger viel gesehen», sagt der Hitzkircher. Leider sei nicht alles positiv gewesen. «In der Schweiz muss etwas geschehen.» Viele Altersheime würden die Menschen zu fest in eine vorgegebene Struktur zwängen, ist Winter überzeugt. «Der Kostendruck ist häufig ein Problem.» Zudem wachse die Branche sehr schnell. «Es wird Geld auf dem Buckel der Alten gescheffelt.» Darunter würden genau jene leiden, die der heutigen Gesellschaft Wohlstand und soziale Sicherheit gebracht hätten, echauffiert sich der Schriftsteller. Ein Heim könne zwar nie das eigene Zuhause ersetzen, aber sich wenigstens heimelig anfühlen. Diese Message will Winter mit seinem Buch vermitteln. «Auch wenn meine Geschichte eine Utopie ist, will ich die Leute damit zum Nachdenken anregen.»
Die Figur Josef Bitzi, welche in Winters Buch die Hauptrolle spielt, entstand ebenfalls aus Eindrücken und Erfahrungen des Schriftstellers. «Neben dem Haus meines Grossvaters war ein Bauernhof. Dort arbeitete ein alter Knecht namens Kählin.» Als kleiner Junge habe ihn der knorrige Mann mit der Pfeife im Mund fasziniert. «Nur schon sein Geruch war einzigartig», erzählt Winter. Auch später habe er immer wieder Kontakt zu Knechten gehabt. Sei es auf Bauernhöfen im Emmental, wo Winter eine Zeit lang arbeitete, oder auch als Pfleger in Altersheimen.
Am vergangenen Samstag las André David Winter im Alters- und Pflegeheim Ibenmoos aus seinem neuen Buch. Diese Institution blickt auf eine bewegte Vergangenheit zurück. «Hierher wurden früher randständige Menschen gebracht», erzählt Heimleiter Marcel Villiger. Auch «ausrangierte» Knechte, wie Josef Bitzi im Buch beschrieben wird, waren darunter. Als Villiger vor neun Jahren die Stelle als Heimleiter antrat, hatten von den insgesamt 35 Bewohnern acht Männer und zehn Frauen eine Vergangenheit als Knecht oder Magd. Heute ist es noch eine Person.
Villiger kann sich besonders an einen Mann erinnern, der inzwischen nicht mehr im Ibenmoos wohnt. Auch er war ein Knecht. «Er war stark alkoholabhängig und wollte sich partout nicht helfen lassen.» So habe er im Töffli- und Fahrradunterstand einen Kühlschrank betrieben. Daneben einen Kochherd. «Er ging mit dem Moped selbständig einkaufen und kochte für sich.» Gesprochen habe er mit ihm einige Male. «Immer wenn er betrunken war, kam er zu mir und wollte mich davon überzeugen, ihn gehen zu lassen.» Schliesslich wurde ihm dieser Wunsch erfüllt. «Vor sechs oder sieben Jahren hat er uns verlassen. Er zog im Entlebuch in eine kleine Wohnung.» Inzwischen sei der alte Knecht aber wieder in einem Heim. «Er verwahrloste ohne Aufsicht zusehends.»
Im Heim fühlen sie sich nutzlos und bevormundet. André David Winter, Autor
Dass im Ibenmoos jemand solche Freiheiten geniessen konnte, erstaunt. «Natürlich war diese Situation für uns nicht einfach. Aber wir wollten ihn nicht einfach einsperren, nur weil er sich in manchen Dingen querstellte», sagt Marcel Villiger. Dies sei aber nur möglich gewesen, weil das Verhalten des Mannes eine Ausnahme unter den Bewohnern darstellte, gibt Villiger zu.
Für André David Winter ist diese Geschichte ein Beweis dafür, dass man auch mit solchen Bewohnern respektvoll umgehen kann. Obwohl er das Ibenmoos zuvor nicht kannte, zeigt er sich beeindruckt. «Es ist sehr familiär hier, und dass die Heimleitung derart auf die Bewohner eingeht, ist alles andere als selbstverständlich.» Winter muss es wissen. Der 56-Jährige ist nicht nur Autor und ehemaliger Pfleger, sondern arbeitet auch als Gerontologe. In dieser Funktion berät er Altersheime, wie sie die Lebensumstände der Bewohner verbessern können. Besonders Menschen, die ein Leben lang hart gearbeitet haben, täten sich häufig schwer mit dem Altersheim. «Man fühlt sich nutzlos und bevormundet.»
Zudem hätten solche Menschen häufig Angewohnheiten entwickelt, welche sie nicht plötzlich ablegen können. «In einer Wohngruppe, in der ich arbeitete, lebte ein dementer Knecht. Jede Nacht hatte er Schlafstörungen. Schliesslich kam jemand auf die Idee, ihm ein Glas Mist ins Zimmer zu stellen. Ab diesem Zeitpunkt schlief er ohne Probleme.» Winter erfuhr erst später während einer Weiterbildung, warum der Knecht nur mit dem Mistgeruch in der Luft schlief. «Es gab ihm ein Gefühl von Sicherheit, da früher jene Bauern mit dem grössten Miststock am meisten Geld hatten.»
André David Winter ist davon überzeugt, dass jeder Heimbewohner nur durch Verständnis der Heimleitung und der Angestellten sich zu Hause fühlen kann. «Sonst bekommen sie Heimweh, jene Krankheit, die man im Heim bekommt.» Und damit sie sich nicht aufbäumen müssen sei es wichtig, die Bewohner zu beschäftigen. Oder wie es Josef Bitzi im Buch sagt: «Ihr müsst uns beschäftigen, sonst beschäftigen wir euch.»