Vor gut zwei Jahren entschied sich Hubert Abt, künftig Lilly Abt zu sein. Nun erzählt die 56-Jährige erstmals öffentlich, was sie zu diesem Schritt bewog und warum sie nur Dank ihres Outings noch am Leben ist.
Hubert Abt wollte sterben. Der Abschiedsbrief für seine Frau und die beiden Söhne hatte er bereits geschrieben. An einem schönen Sommermorgen im Jahr 2015 begann er, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Als Hochdorfer Kirchenrat verfügte Abt über alle Schlüssel der Pfarrei und bestieg den Kirchturm. Mit einem Sprung aus 55 Metern wollte er seinem Leben ein Ende setzen. Ängste plagten den damals 51-jährigen Mann. Sein innigster Wunsch, künftig eine Frau zu sein, zerriss ihn. Würde ihn die Gesellschaft in der Gestalt einer weiblichen Person noch akzeptieren? Würde er seine Freunde und die Familie verlieren? Was würde aus seinem Job als Projektleiter beim Fensterbauer 4B? Als er auf dem höchsten Punkt des Turms sass und den richtigen Moment für seinen Fall abwartete, nahm er allen Mut zusammen. Doch nicht, um seinem Leben ein Ende zu setzen, sondern den Sprung ins Leben als Frau zu wagen. Und zwar ab sofort. «Ich sagte mir, du kannst jetzt nicht einfach vor deinen Problemen davonlaufen. Du musst etwas ändern», erinnert sich Lilly Abt an den wegweisendsten Moment ihres Lebens.
Sie will sich so geben wie sie ist
Lilly Abt sitzt am Küchentisch in ihrer Wohnung in Baldegg. Die grosse Fensterfront gewährt den Blick auf den See. Licht und Wärme durchfluten die Räume. Die 56-Jährige steht auf, um ein Fenster zu öffnen. «Es wird schnell heiss hier, dafür ist es schön hell. Man kann halt nicht alles haben.» Während sie dies sagt, streicht sie ihre langen braunen Haare hinter die Ohren. Die Geste sitzt, ohne gekünstelt zu wirken. «Am Anfang wollte ich mich viel zu übertrieben als Frau darstellen.» So habe sie intensiv an ihrem Gang geübt und Mimik und Gestik versucht zu adaptieren. «Mit der Zeit begriff ich, dass ich mich so geben muss, wie ich bin.» Natürlich verhalte sie sich etwas anders als früher. Bier trinke sie jetzt aus dem Glas, beim Shopping sei sie eine typische Frau. «Ich brauche nun viel mehr Zeit dafür», sagt Lilly Abt und lacht rau. Ja, die Stimme. Die würde sie gerne an ihr Äusseres anpassen. Mit Hormonen sei das aber nicht möglich. «Ich habe es schon mit Trainings beim Logopäden versucht, das hat aber nicht wirklich geklappt.» Sie könne zwar weiblicher klingen – Lilly Abt spricht in diesem Moment zwei Tonlagen höher – das wirke aber nicht natürlich. Und noch einen Wunsch hat sie. Den Bartwuchs loswerden. «Die Entfernung der Haarwurzeln ist einfach wahnsinnig teuer.» Man kann eben nicht alles haben.
Zuhause Frau, im Beruf Mann
Hubert Abt, geboren in Lieli und aufgewachsen in Kleinwangen, verspürte schon in seiner Kindheit den Wunsch, ein Mädchen zu sein. Mädchenkleider gefielen ihm. Wenn es niemand sah, zog er sich so an. Auch verstand er sich mit dem weiblichen Geschlecht oft besser, fühlte sich ihnen näher. Während der Pubertät und im frühen Erwachsenenalter verdrängte Abt diese Gedanken. Er absolvierte das Militär, liess sich einen Bart wachsen und gab sich betont männlich. Mit 19 Jahren lernte Hubert Abt seine heutige Ehefrau kennen. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor. In dieser Zeit war der gelernte Schreiner mit der Arbeit und den kleinen Buben stark beschäftigt. Das lenkte ihn ab von anderen Gedanken. Als die Kinder älter wurden, wuchs sein innigster Wunsch wieder. Seine Gefühle waren stärker denn je. Hubert Abt zog die Kleider seiner Frau an, wenn diese gerade nicht da war. Er schminkte sich heimlich. Obwohl er sich jedes Mal für einen kurzen Moment gut und frei fühlte, war er nicht glücklich damit. Das ständige Versteckspiel belastete seine Psyche. Er begann, sich übers Internet zu informieren. Wollte wissen, warum er sich im falschen Körper geboren fühlt. Und fand Antworten. Hubert Abt ist transident. Sein körperliches und psychisches Geschlecht passen nicht zusammen (siehe Box).
«Jetzt kann ich mich endlich so zeigen, wie ich mich fühle.»
Lilly Abt über ihr neues Leben als
Frau.
Vor sieben Jahren das Outing. Erst nur bei Familie und Freunden. Als Frau lief Hubert Abt nur in den eigenen vier Wänden herum. Er war eine Teilzeitfrau. Zufrieden war der Ballwiler auch damit nicht. Nach seiner Suizidabsicht kontaktierte er einen Psychiater. Nun durfte Abt offiziell Hormone nehmen. Seine Oberweite begann zu wachsen, der Bierbauch verschwand. Dafür wurden die Hüfte etwas rundlicher. Seine Transformation konnte er nun immer weniger verbergen. Und wollte es auch nicht mehr. Spätestens mit der Namensänderung vor gut zwei Jahren war es offiziell. Aus Hubert wurde Lilly. «Der Name ist mir eines morgens spontan in den Sinn gekommen und gefiel mir auf Anhieb.» Und wie fühlt es sich an, nun als Frau durchs Leben zu gehen? «Grossartig. Jetzt kann ich mich endlich so zeigen, wie ich mich fühle.»
Sie sieht ihre Frau täglich
Seit dem Outing lebt Lilly Abt nicht mehr mit ihrer Ehefrau in der gleichen Wohnung. Neben dem Wohnhaus über der Garage baute sich Lilly Abt eine neue Bleibe. «Meine Gemahlin sagte, dass sie einen Mann geheiratet hat und nicht eine Frau.» Aus diesem Grund sei es für ihre Frau nicht mehr möglich gewesen, in der gleichen Wohnung zu leben. «Sie konnte lange nicht über dieses Thema sprechen. Es schmerzte sie zu sehr», sagt Lilly Abt und senkt zum ersten Mal den Blick. Für einen kurzen Moment scheint es, als verliere sie die Fassung. Als sie wieder aufblickt, sind ihre tiefblauen Augen feucht. «Wir sind aber noch verheiratet», schiebt sie sogleich nach. Sie hätte ihre Ehepartnerin verstehen können, wenn diese die Scheidung eingereicht hätte, sagt Abt wieder ganz abgeklärt. Dies habe die Frau aber nicht gewollt. «Wir haben nach wie vor ein gutes Verhältnis und unterstützen uns gegenseitig.» Sie würden sich täglich sehen. «Manchmal bin ich bei ihr und umgekehrt.» Wichtig sei für beide, die Privatsphäre des anderen zu respektieren. Schliesslich sei es jederzeit möglich, dass der eine von beiden einen neuen Partner finde.
Lilly Abt bezeichnet sich als homosexuell. «Ich bin lesbisch. Eine intime Beziehung mit einem Mann zu führen, kann ich mir nicht vorstellen.» Zurzeit sei sie aber nicht auf der Suche. «Es ist gut so, wie es ist.»
«Meine Frau konnte lange nicht darüber sprechen.»
Lilly Abt über den seelischen Schmerz ihrer Ehefrau.
Als Präsident begonnen, als Präsidentin beendet
Lilly Abt ist in der SVP Hochdorf aktiv. Während zwölf Jahren stand sie der Partei vor. «Ich begann als Präsident und gab als Präsidentin ab», sagt sie und lacht. Der Grund für ihren Rücktritt habe aber nichts mit ihrer persönlichen Veränderung zu tun, wie Abt betont. «Ich wurde immer fair behandelt, auch nachdem ich eine Frau war.» Sie habe in dieser Zeit nie etwas Negatives erfahren oder gehört. Mit der nationalen Politik der SVP sei sie nicht in allen Belangen einig. So spricht sie sich dafür aus, dass es künftig möglich sein soll, das Geschlecht vor dem Zivilstandesamt ändern zu lassen und den Gang zum Richter nicht mehr antreten zu müssen. Die SVP Schweiz ist gegen diese Änderung. Unter anderem befürchtet die Partei, dass Männer dies dafür ausnutzen könnten, die Militärdienstpflicht zu umgehen. «Wenn das ein Argument sein soll, hat wohl eher das Militär ein Problem», sagt Lilly Abt dazu. Gleichzeitig gibt es aber auch für sie Grenzen. Sie sei bei Operationen zur Geschlechtsumwandlung beispielsweise klar dafür, dass man eine abgeschlossene Hormontherapie und ein Gutachten eines Psychiaters vorlegen müsse und nicht einfach ohne Nachweis ins Spital gehen könne. «Linke Parteien fordern in diesem Bereich Lockerungen.» Insgesamt fühlt sich Lilly Abt nach wie vor am richtigen Ort bei der SVP. Sie habe sich natürlich Gedanken gemacht, ob die Partei noch zu ihr passe. «Ich bin zum Schluss gekommen, dass ich zu einer unabhängigen und freien Schweiz stehe. Das vertritt nur die SVP.»
Neben ihrem Engagement in der Politik ist Abt auch weiterhin als Kirchenrätin aktiv. Da sie nicht wusste, wie die katholische Kirche auf Transmenschen reagiert, schrieb sie dem Bistum Basel ein Mail und legte ihre Situation dar. Die Antwort überraschte Lilly Abt: «Der zuständige Vikar begrüsste es ausdrücklich, dass ich weitermachen möchte und sagte, dass die Kirche noch viel lernen müsse in diesem Bereich.»
Vorurteile abbaue
Lilly Abt erhofft sich, dass nicht nur ihre Parteikollegen in Hochdorf oder ihre Arbeitskollegen beim Fensterbauer 4B offen auf Menschen mit anderen Lebensformen zugehen. «Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft toleranter wird. Und zwar nicht nur uns gegenüber, sondern allen Menschen, egal mit welcher Religion, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung.» Obwohl sie viele positive Erfahrungen mache, wisse sie, was manche von ihr denken: «Die spinnt». Auch sie habe zwei Kollegen durch ihr Outing verloren, die nicht damit umgehen konnten. «Ich verlange von niemandem, dass er mich versteht. Es geht mir nur darum, dass er oder sie mich akzeptiert so wie ich bin. Schliesslich bin ich noch der gleiche Mensch wie zuvor.»
Mit ihrer Lebensgeschichte möchte Lilly Abt auch andere Transmenschen dazu bewegen, zu ihren innersten Gefühlen zu stehen. «Es gibt immer noch viele, die sich zu Hause verstecken und depressiv sind. Die Suizidrate ist hoch.» Sie sei jederzeit für ein Gespräch bereit. Zwei transidente Männer machten von diesem Angebot bereits Gebrauch. «Sie besuchten mich und erzählten von ihren Zweifeln und Ängsten.»
Nicht zuletzt geht es Abt auch darum, Vorurteile abzubauen. Viele würden beispielsweise denken, Transmenschen würden sich extravagant und auffällig kleiden. Das stimme aber nicht. «Ich bin kein Paradiesvogel. Ich will einfach Frau sein.»
Was ist Trans?
Von Trans spricht man, wenn das Geschlecht, dem sich eine Person zugehörig fühlt, nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das bei der Geburt aufgrund körperlicher Merkmale zugewiesen wurde. Begriffe, die ebenfalls dafür verwendet werden, sind Transgender oder Transidentität. Gemäss dem «Transgender Network Switzerland» bezeichnet man einen Transmann als Mann, der bei seiner Geburt aufgrund des Körpers als Mädchen eingeordnet wurde. Bei der Transfrau handelt es sich um eine Frau, die bei ihrer Geburt aufgrund des Körpers als Junge eingeordnet wurde.
Schätzungen zufolge leben an die 40 000 Transmenschen in der Schweiz. Davon haben aber längst nicht alle eine Hormontherapie, eine Namensänderung oder eine geschlechtsangleichende Operation hinter sich. Diesen Schritt haben hierzulande nur ein paar Tausend vollzogen.